Gemäß meines Verständnisses von Wissenschaft verstehe ich Gender (= das soziale Geschlecht; im Gegensatz zu „sex“, also dem „biologischen“ Geschlecht) als wichtige Produktionsbedingung für wissenschaftliche Erkenntnisse. Für das konkrete Arbeiten bedeutet das meines Erachtens nach vor allem eine Bewusstwerdung über eben diesen Einfluss, der Geschlecht auf die Wissenschaft hat und wenn möglich eine entsprechende Intervention. Ich möchte ein kleines Beispiel geben, um zu veranschaulichen, auf wie vielen Ebenen Geschlecht wirken kann:
In meinem Geschichtsstudium musste ich als Abschlussprüfung, neben der Magistra-Arbeit, zwei mündliche und eine schriftliche Prüfung ablegen. Bei der Vorbesprechung zur Themenauswahl schlug ich „Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ und „Mädchenbildung im Kaiserreich 1881-1914“ vor. Damit war meine Betreuerin soweit einverstanden, meinte dann aber, dass das dritte Thema kein „Frauenthema“ mehr sein dürfte, da laut Studienordnung die Themen inhaltlich nicht zu nah bei einander liegen sollen. Das einzige, was meine Themen allerdings verband, war das Geschlecht meiner Protagonistinnen. Ansonsten unterschieden sich die politischen Systeme, die Jahrhunderte, die Bezugsrahmen (Beteiligung am Widerstand und Ausschluss aus einem Bildungssystem). Hätte ich sowas wie „Militärischer Widerstand im Nationalsozialismus“ und „Die Entwicklung des Bildungssystems im Kaiserreich 1881-1914“ genommen, wäre dann auch der Einwand gekommen, dass das dritte Thema aber bitte kein „Männerthema“ sein durfte? Denn weder zum nationalsozialistischen Militär (ausgenommen der Sanitätsbereich), noch zum regulären Bildungssystem im Kaiserreich hatten Frauen Zugang. Ganz sicher wäre das nicht der Fall gewesen, denn meine Betreuerin hätte diese Themen gar nicht als „Männerthemen“ wahrgenommen, sondern als „normale“ geschichtswissenschaftliche Untersuchungsgegenstände.
Diese „Normalisierung“ von Männlichkeit (=der Fachbegriff dafür ist Androzentrismus) durchzieht die Wissenschaft auf allen Ebenen und das oft unbewusst, weil unsere Gesellschaft ebenso davon durchdrungen ist. Ein kleines Beispiel: Wenn Menschen nach ihren Lieblingsschauspielern gefragt werden, wie viele Schauspielerinnen stehen wohl auf dieser Liste? Und wenn nach Lieblingsschauspielerinnen gefragt wird, wie viele Männer? Das deutsche Sprachsystem ist nicht geschlechtsneutral, sondern steht sozusagen auf zwei Füßen und reproduziert bestimmte stereotypische Vorstellungen über Geschlecht. Und genau darum geht es mir in der Genderberatung, um den bewussten Umgang mit Sprache, einer genderkompetenten Reflexion der eigenen Fragestellung und Themenauswahl und einer damit verbundenen Intervention in sexistische Wissenschaftspraxen.
Grundsätzlich gilt: Habt keine Angst vor „diesem Gender“, denn genderkompetentes wissenschaftliches Arbeiten bereichert jede wissenschaftliche Arbeit und ist letztendlich nur eine Frage des Willens und der Übung. Wenn euch das noch zu abstrakt erscheint, ihr aber grundsätzlich Interesse habt, schreibt mir und wir reden drüber :)