In meiner Beratungstätigkeit verfolge ich den Ansatz, dass Wissenschaft menschengemacht ist und dass das in der wissenschaftlichen Arbeit selbst auch sichtbar werden kann und sollte.
Im klassischen Verständnis gilt Wissenschaft als objektive, also von den Forscher_innen unbeeinflusste, Abbildung der Realität. Ich hingegen verstehe den wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang als gesellschaftlich und historisch verortet.
Das heißt, was als „wahre“ Erkenntnis in der Wissenschaft gilt, ist davon abhängig, was gesellschaftlich im Hier und Jetzt als Wahrheit akzeptiert wird (Stichwort z. B. Galileo Galilei im Italien des 17. Jahrhunderts und seine als unerhört geächtete Behauptung, die Erde sei keine Scheibe…).
Leider findet in den meisten Fächern keine Reflexion über die Entstehungsbedingungen von Fachwissen statt. Menschen fangen an zu studieren, sie lernen „wissenschaftlich“ zu sprechen und bekommen beigebracht, dass die eigene fachliche Perspektive und die fachspezifischen Methoden den besten, weil „wahrsten“, Zugriff auf bestimmte Untersuchungsgegenstände bietet.
Nicht auf dem Lehrplan steht hingegen, dass Methoden und Herangehensweisen sowie die Art zu fragen und was überhaupt als erforschenswert gilt, historischen Wandlungen unterliegt.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie:
- der Entwicklungsstand von Untersuchungstechnik,
- ethische und religiöse Richtlinien,
- das Ansehen einzelner Fachrichtungen und ihre entsprechende Finanzierung,
- die Ausrichtung von Lehr- und Lerninhalten an der Wirtschaft…
das und vieles mehr hat Einfluss auf den Erkenntnisprozess und die wissenschaftliche Praxis, nicht nur in den Geisteswissenschaften sondern auch in den sogenannten „harten“ Fächern, wie Mathematik, Ingenieur-, Natur- und Technikwissenschaften (MINT).
Ebenso bringen Wissenschaftler_innen ihre individuelle Sozialisation (=Werteerziehung, Vorbilder, Prägung durch die Familie und Freund_innen usw.) mit in den Forschungsprozess ein. Diese Sozialisation ist bedingt durch
- die eigene kulturelle und
- soziale Herkunft,
- das Geschlecht
- Religion
- familiäre Umgebung usw.
und das Einfließen dieser Faktoren in die eigene Arbeit passiert unbewusst.
Das ist weder schlimm, noch schmälert es den Wert wissenschaftlicher Arbeit. Wenn aber diese Einflüsse auf die eigene Forschung verschwiegen werden, dann macht es die Forschungsergebnisse meines Erachtens nach unvollständig.
Die Art, wie wir Dinge wahrnehmen, welche Dinge wir problematisieren und in welchen Kontext wir diese Dinge stellen, hängt von unserer persönlichen und fachlichen Sozialisation ab.
Thematisieren wir das nicht in unseren Arbeiten, sondern „verstecken“ wir uns hinter der Idee einer unbeteiligten Position einer Betrachter_in, leidet die Aussagekraft der Forschungsergebnisse.
Nur die bestmögliche Reflexion über die Entstehungsbedingungen der eigenen Erkenntnisse macht diese anknüpfungsfähig an bestehende und zukünftige Forschung.
Wie genau diese Reflexion aussehen kann, ist unterschiedlich und hängt vom Umfang und der Art des wissenschaftlichen Projektes ab und sicherlich auch von der „Übung“, die Studierende oder Schüler_innen mit wissenschaftlicher Selbstreflexion haben.
Oft macht es schon einen großen Unterschied, wenn eine Arbeit bewusst in der „Ich“-Perspektive geschrieben wird. In den meisten Fächern ist das nämlich ein riesiges No-Go, weil es als „objektiver“ wahrgenommen wird, wenn sich die Autor_innen der Arbeit hinter Satzkonstruktionen wie:
- „Der Vorgang wurde durchgeführt…“
oder
- „Die Auswertung hat gezeigt…“
verstecken anstatt zu sagen:
- „Ich habe die Untersuchungen folgendermaßen durchgeführt…“
oder
- „In meiner Auswertung bin ich auf eine Abweichung gestoßen…“.
Macht es die Ergebnisse weniger stichfest, nur weil ich „zugebe“ und sprachlich zeige, dass ich an meiner eigenen Forschung beteiligt war?
Eine weitere Möglichkeit der Reflexion ist die kritische Besprechung der eigenen Herangehensweise am Ende der Arbeit oder auch des Referats. Macht transparent, an welchen Stellen ihr warum bestimmte Entscheidungen getroffen habt, bspw. bei:
- der Literaturauswahl,
- Methodenauswahl,
- Bezüge zu anderen Forschungsergebnissen usw.
und stellt das zur Diskussion.
Wissenschaftlich zu arbeiten bedeutet letzten Endes vor allem Entscheidungen zu treffen. „Objektivität“ im Sinne von „Einschätzbarkeit“ kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn ich diese Entscheidungsprozesse offen darlege. So können die Leser_innen meine Gedankengänge mitverfolgen und für sich selbst entscheiden, was sie mit meinen Ergebnissen anfangen.
Es gibt noch viele weitere Möglichkeiten, das eigene wissenschaftliche Arbeiten transparenter zu machen und ich berate euch gerne dazu.
Abschließend möchte ich noch sagen: Habt Mut zum kritischen wissenschaftlichen Arbeiten, denn:
Es gibt nur eine einzige allzeit wahre Wahrheit in der Wissenschaft und zwar die, dass keine Erkenntnis je einfach vom Himmel gefallen ist.